Margaret Alice Murray (1863–1963)

Veröffentlicht:

2017

Autorin:

Kerstin Geßner

Zwischen den Welten

„My first one hundred years“ lautete der vielsagende Titel der Autobiographie, die Margaret Alice Murray 1963 kurz nach ihrem 100. Geburtstag veröffentlichte. Offenbar betrachtete die Ägyptologin, die noch im gleichen Jahr verstarb, ihren bevorstehenden Tod nicht als Ende, sondern eher als den Auftakt einer langen Reise in eine andere Welt.


Zwischen den Welten zu wandeln gelang der in Indien geborenen und in Europa aufgewachsenen Engländerin bereits zu Lebzeiten mit Leichtigkeit. Als Linguistin am Lehrstuhl für Ägyptologie der Universität London hatte sie prägenden Einfluss an der Entstehung der jungen Disziplin. Doch international bekannt wurde sie nicht mit Fachpublikationen, sondern mit ihrer bis heute stark umstrittenen Forschung zum Hexenwesen, was ihr in den 1940er und 1950er Jahren mehrere Bestseller bescherte. Trotz heftiger Kritik hielt die nur 1,25 m große Frau hartnäckig an ihren Thesen fest – ebenso unbeirrt, wie sie an der Seite der berühmt-berüchtigten Suffragette Emmeline Pankhurst ihr Leben lang für Frauenrechte kämpfte.

Kindheit in Indien

Ihr Engagement für Gleichberechtigung wurde Margaret Alice von ihrer Mutter in die Wiege gelegt, deren eigener Wunsch, Ärztin zu werden, an den Konventionen des 19. Jahrhunderts scheiterte. Da der Zeitgeist Frauen ein akademisches Studium verwehrte, ging Margaret Carr als Missionarin nach Indien und heiratete dort den für die East India Company tätigen Geschäftsmann James G. Murray. In Kalkutta, wo sie auch ihre Töchter Mary und Margaret Alice zur Welt brachte, machte sie sich einen Namen als Mitgründerin der Organisation Friends in need. Diese stellte sich zur Aufgabe, indische Frauen in Lohn und Brot zu bringen – ein unerhörtes Unterfangen in einem Land, in dem noch heute, rund 150 Jahre später, das Taxifahren als eine für Frauen unangemessene Beschäftigung gilt. Ihren eigenen Töchtern ließ Margaret Carr eine vorzügliche Ausbildung angedeihen. Sie erhielten Privatunterricht in den Disziplinen Arithmetik, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Musik, Deutsch und Französisch.


Der Grenzgang zwischen den Kulturen war Margaret Alice seit Kindertagen vertraut: Als Siebenjährige verbrachte sie gemeinsam mit ihrer Schwester einige Jahre bei ihren Großeltern in England, wo sie sich, inspiriert von ihrem Onkel John, für die Altertümer in der Umgebung begeisterte. Der belesene Mann führte sie nicht nur in die altenglische Kirchenkunst ein, sondern erforschte zusammen mit den Mädchen auch vorgeschichtliche Erdwerke und Megalithbauten. Nachdem sie anschließend mehrere Jahre in der beschaulichen Universitätsstadt Bonn verbracht hatten, wo die Mädchen fließend Deutsch lernten, ließ sich die ganze Familie 1877 in London nieder. Dort besuchten die Töchter zum ersten Mal eine öffentliche Schule. Von dem Bruder des berühmten Ägyptologen Auguste Mariette erhielt Margaret Alice Französischunterricht – ein Zufall, der nicht ohne Folgen bleiben sollte.


Nur drei Jahre später kehrte die Familie nach Kalkutta zurück, wo Margaret Alice als erste Frau in Indien als Krankenschwester in einem Hospital arbeitete. Doch sie schlug nicht wie geplant die medizinische Laufbahn ein. Denn als die Schwestern aus der Zeitung erfuhren, dass Frauen neuerdings an dem Lehrstuhl für Ägyptologie am University College of London studieren durften, wandte sich die bereits verheiratete Mary an ihre ledige Schwester mit den Worten: „Ich kann nicht gehen, aber du musst.“

Ägyptologie in London

Über 500 Jahre lang war der Universitätsbesuch ein Privileg der Männer gewesen. Unter dem Eindruck einer erstarkenden Gleichberechtigungsbewegung öffneten jedoch Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Universitäten ihre Hörsäle auch für Frauen. Meist nur als Gasthörerinnen zugelassen, gelang es allerdings nur wenigen, sich ordentlich zu immatrikulieren und dadurch einen Abschluss zu erlangen. Als sie sich im Alter von 31 Jahren an der Universität London für Ägyptologie einschrieb, gehörte Margaret Alice Murray zu diesem kleinen Kreis.

Auguste Mariette (1821–1881) auf einer Mastaba sitzend, Ausgrabungen in Sakkara (Voyage dans la Haute Egypte, 1878)

Der neue Lehrstuhl war 1892 aus Mitteln der verstorbenen englischen Reiseschriftstellerin Amelia B. Edwards eingerichtet worden, die zuvor bereits als Gründerin des Egypt Exploration Fund (EEF) einen jungen Archäologen durch die Erteilung großzügiger Forschungsgelder gefördert hatte. Es handelte sich um Flinders Petrie, den Amelia Edwards auch als Wunschkandidaten für den ersten Lehrstuhl für Ägyptologie auserkor. Dafür stellte Edwards in ihrem Testament entscheidende Weichen. Zwar wurde Petrie an keiner Stelle namentlich genannt, seine Mäzenin verfügte jedoch, dass die Gelder nur dann an den Lehrstuhl ausbezahlt werden sollten, falls der Inhaber nicht älter als 40 Jahre alt sei und darüber hinaus nicht aus den Reihen des British Museums stamme. Neununddreißigjährig und ohne feste Anstellung erfüllte Flinders Petrie diese Bedingungen mühelos und wurde so zum ersten Professor der Ägyptologie, obgleich er weder über eine vollständige Schulausbildung noch über ein Studium verfügte.

Auszug aus der "Aegyptischen Grammatik" des deutschen Ägyptologen Adolf Erman, 1894

Während sich Flinders Petrie seinen Ausgrabungen in Ägypten widmete, übernahm Francis Griffith, ein ehemaliger Schüler Petries, den Sprachunterricht in London. Obgleich Griffith ein brillanter Linguist war, konnten die Studenten des Hieroglyphenkurses seinen komplizierten grammatikalischen Ausführungen nicht immer folgen. Allein die polyglotte Margaret Alice Murray besaß den entscheidenden Vorteil, die deutsche Sprache zu beherrschen, weshalb sie als einzige in der Klasse das soeben erschienene Standardwerk des deutschen Ägyptologen Adolf Erman lesen konnte. Bald wurde der größte Teil des Sprachunterrichts an die Studentin delegiert, die über die nächsten 40 Jahre mehrere Generationen an Ägyptologen ausbilden sollte.

Relief des ithyphallischen Gottes Min aus dem Tempel von Koptos (fotografische Reproduktion für William M. Flinders Petrie, Koptos, London: Quaritch, 1896, T. 1)

Doch Margaret Alice Murray war nicht nur sprachbegabt, sondern auch ein Zeichentalent. Ihr sicherer Strich beförderte sie schnell zur Chefillustratorin von Flinders Petrie, unter dessen Anleitung sie unter anderem Abschriften der jüngst entdeckten Reliefs aus dem Min-Tempel von Koptos erstellte. Eines der Hauptreliefs, das den ithyphallischen Gott an der Seite des Pharaos Sesostris zeigte, kollidierte jedoch mit dem herrschenden Zeitgeist des spätviktorianischen Englands. Mit Rücksicht auf den Ruf seiner unverheirateten Zeichnerinnen entschied sich Petrie deshalb für eine für damalige Verhältnisse recht kostspielige photographische Reproduktion, auf der man – um jede Anstößigkeit zu vermeiden – den als pikant empfundenen Ausschnitt mit einem Schild abgedeckte.

Abydos

1902 begleitete Margaret Murray Flinders Petrie und seine Frau Hilda nach Ägypten, um den Haupttempel von Abydos zu untersuchen. Das Interesse an den verborgenen Geheimnissen der von Sethos I. (um 1323 v. Chr.–1279 v. Chr.) errichteten Tempelanlage wurde beflügelt durch den großen Zuspruch, welchen die ägyptischen Mysterienkulte bereits seit dem 18. Jahrhundert erfuhren. So richtete sich das Augenmerk auf die unterirdische Halle, in deren Hauptachse das Osireion liegt – ein Kenotaph in Gestalt eines Osirisgrabes. Die Reliefs der Pfeilerhalle zeigen neben Szenen aus dem Totenbuch und dem Pfortenbuch auffallend viele kosmographische Bezüge, darunter Sternentafeln.


Murrays Aufgabe bestand darin, die Hieroglyphentexte zu entziffern und zu übertragen, da kein anderes Teammitglied das Mittelägyptische beherrschte. Außerdem sollte sie die Arbeiter auf der Ausgrabung anleiten und beaufsichtigen. Die Ägypter weigerten sich jedoch, auf die Befehle der nur 1,25 m großen Frau zu hören, denn sie hielten sie für ein Kind. Entrüstet schickte Murray die Männer deshalb ins Camp zurück und ließ sie wissen, dass sie nun einen ganzen Tageslohn verloren hätten. Von diesem Tag an gab es keine Schwierigkeiten mehr mit den Arbeitern, doch es sollte ihr letzter Aufenthalt in Ägypten bleiben.

Flinders Petrie und seine Schwägerin Amy Urlin im Camp von Abydos (Egypt Exploration Society)

Unrolling of a Mummy

Die Öffnung eines Sarkophags war seit dem 18. Jahrhundert Volkssport in Europa und Amerika, der zuverlässig Scharen von Schaulustigen anzog. Aus diesem Grund wurden in Ägypten, insbesondere in Theben-West, zahlreiche Gräber geplündert, um genügend Nachschub für die öffentlichen Spektakel zu requirieren. Nicht nur Schatzgräber beteiligten sich an dem unwürdigen Schauspiel, sondern auch akademische Kreise – mit dem einzigen Unterschied, dass das Mumienentrollen von einem Vortrag begleitet wurde.

Einladung zur Mumienentrollung in New York, 1864

Bei den von Flinders Petrie zu Verfügung gestellten Mumien handelte es sich um die Inhaber des sogenannten Tomb of the two brothers, einer Grablege aus dem Mittleren Reich, die von Petrie in Oberägypten bei Deir Rifeh ausgegraben worden war. Vor einem fünfhundertköpfigen Publikum überwachte Margaret Murray am 6. Mai 1908 die Öffnung der beiden Sarkophage. Während die Mumien selbst samt Beigaben im Museum verblieben, wurden die Mumienbandagen in Stücke geschnitten und an Interessenten als Erinnerungsstücke verkauft.

Margaret Murray (zweite von links) nach der Sarkophagöffnung (Foto: Museum Manchester)

Kein Geld für die Doktorrobe

Doch die öffentlichen Auftritte waren eher selten, denn Margaret Alice Murray widmete sich intensiv ihrer Lehrtätigkeit am UCL. Zeitgleich verfasste sie ein neues Lehrbuch zur ägyptischen Grammatik, meistens am Krankenbett ihrer bettlägerigen Mutter, die sie nach dem Tod des Vaters pflegte. Da die meisten ihrer Studenten an dem deutschen Standardwerk verzweifelten, legte sie eine leicht verständliche englische Version vor. Wie eine Widmung von Raymond Faulkner illustriert, zeigten sich ihre Schüler darüber dankbar: „To Margaret Murray who first taught me ancient egyptian in gratitude and affection“.


Zwar war sie ein wichtiger Pfeiler im Gefüge des Lehrstuhls, denn neben Sprachkursen hielt sie auch Vorlesungen über ägyptische Geschichte, Religion, Kunst und Handwerk, dennoch erfolgten die Beförderungen nur zaghaft. Nach Jahren als lecturer wurde Margaret Alice Murray 1924 endlich zur Assistenz-Professorin für Ägyptologie berufen – ein Posten, den sie bis zu ihrem Ruhestand innehatte, den sie immerhin erst im Alter von 72 Jahren antrat. Dass Margaret Murray nach fast vierzig Jahren Lehrtätigkeit nicht einmal die finanziellen Mittel besaß, sich eine Doktorrobe für die Verleihung der Ehrendoktorwürde zu kaufen, ist ein anschauliches Beispiel für die unzureichende Entlohnung von Frauen im akademischen Betrieb. Damit sie für diesen besonderen Tag überhaupt in angemessener Kleidung auftreten konnte, mussten ihre Studenten zusammenlegen.

Frauenrechtlerin

Murray war kein Einzelfall. Anfang des 20. Jahrhunderts waren Frauenrechte, zu denen nicht nur das Wahlrecht, sondern auch eine gerechte Entlohnung gehörte, weder im Vereinigten Königreich noch im übrigen Europa eine Selbstverständlichkeit. Um diese unbefriedigende Situation zu verändern, unterstützte Margaret Murray leidenschaftlich die international operierende Frauenbewegung, indem sie bereits 1907 Mitglied der Organisation Women’s Social and Political Union wurde. Die von Emmeline Pankhurst geführte Sufragettenbewegung war berüchtigt, denn ihr wurden zahlreiche Delikte zur Last gelegt. Dazu gehörten die Zerstörung mehrerer Tausend Briefkästen, das Werfen einer toten Katze, ein Anschlag mit einem Pfefferstreuer auf den Premierminister, die wiederholte Störung von Gottesdiensten mit Rufen, wie „God save Mrs Pankhurst“, bis hin zu Brand- und Bombenanschlägen.

Die Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst bei einer ihrer Verhaftungen im Jahr 1914 vor dem Buckingham Palace (The Daily Mirror)

Hexenforscherin

Rührte bereits die Suffragettenbewegung am Althergebrachten, so brach Margaret Murrays Forschung zum Europäischen Hexenwesen vollends ein Tabu. 1921 veröffentlichte Murray ihr umstrittenes Buch The witch-cult in Western Europe – heute ein Klassiker der Wicca-Bewegung. Inspiriert durch einen Aufenthalt in Glastonbury, der legendären Grabstätte von König Artus und seiner Gemahlin Guinevere, beschäftigte sich die von Geheimkulten faszinierte Forscherin mit dem Sagenkreis um den Heiligen Gral. In einer Miszelle, die sie in der von Petrie herausgegebenen Zeitschrift Ancient Egypt publizierte, stellte sie einen Zusammenhang zwischen der Artussage und der ägyptischen Mythologie her, was ihr in Fachkreisen jedoch wenig Zustimmung einbrachte. Ähnlich ablehnend reagierte die Zunft auf ihre Überzeugung von einer ideengeschichtlichen Kontinuität hinsichtlich der Verehrung eines gehörnten Gottes, deren Ursprünge bereits im Neolithikum zu suchen seien.


Auf der Grundlage eines breiten Quellenstudiums entwickelte sie die These von der Existenz eines geheim organisierten Hexenkults, den sie als Relikt einer antiken Religion – sie sprach vom Kult der Diana – interpretierte, die zwar vom Christentum überprägt worden sein, jedoch in England bis in das 18. Jahrhundert überdauert haben soll. Ihre Arbeit, die 1921 erschien, fand beim Publikum so große Aufnahme, dass sie gebeten wurde, für die Encyclopedia Britannica einen entsprechenden Artikel über Hexen zu verfassen. In dem 1933 veröffentlichten Buch The God of the Witches erschien die Beschreibung orgiastischer Riten teilweise so detailliert, dass man nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch öffentlich daran Anstoß nahm.

Margaret Murrays "The Witch-Cult in Western Europe - A Study in Anthropology", zuerst 1921 erschienen

Murrays Arbeiten zur Hexenforschung waren nicht nur von dem Anthropologen James Frazer beeinflusst, der als Begründer der Religionsethnologie Anfang des 20. Jahrhunderts das Monumentalwerk The Golden Bough (Der goldene Zweig) verfasst hatte, das einen religionsgeschichtlichen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart schlug. Auch die Arbeiten des Ethnologen Charles Gabriel Seligman, der mehrere Expeditionen nach Neuguinea, Ceylon und in den Sudan unternommen hatte, prägten ihr Werk. In gewisser Hinsicht trafen Margaret Murrays Arbeiten genau den Zeitgeist, denn der Spiritismus erlebte in den 1920er Jahren, vor allem in gehobenen Kreisen, eine Renaissance: Man hielt Séancen ab, folgte fernöstlichen Gurus und informierte sich mit schaurig-schönem Gruseln über die Skandale eines Aleister Crowley.


1954 – Margaret Murray hatte ihr 90. Lebensjahr bereits überschritten – erschien ihr wohl umstrittenstes Buch The Divine King in England, in dem sie die These vom gottähnlichen Charakter des englischen Königtums ausbreitete, in dessen Zusammenhang auch Ritualmorde und Menschenopfer zelebriert worden sein sollen. Damit erklärte sie den gewaltsamen Tod englischer Könige wie William II., genannt Rufus, und der religiösen Führerin Jeanne d’Arc. Die in Fachkreisen scharf formulierte Kritik focht sie nicht an; Margaret Murray verteidigte ihre Thesen unbeirrt bis ins hohe Alter. In einem Gratulationsschreiben anlässlich ihres 100. Geburtstages charakterisierte der Ägyptologe Gerald Wainwright die Jubilarin deshalb auch mit folgenden Worten: „Ihre Stärke lag darin, nicht fraglos zu akzeptieren, was andere gesagt haben, sondern sich selbst ein Bild zu machen, wie sich die Sachlage verhält. So lenkte sie die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf wenig beachtete Details und schockierte so manchen, der sich einen behaglichen Kokon aus bedingungsloser Orthodoxie zugelegt hatte.

Kerstin Geßner (2017)


Literatur


Margaret A. Murray: Elementary Egyptian Grammar. London, 1908.


Margaret A. Murray: The Tomb of Two Brothers. Manchester, 1910.


Margaret A. Murray: The Witch-Cult in Western Europe, London, 1921.


Margaret A. Murray: The God of the Witches. London, 1931.


Margaret A. Murray: The Splendour that was Egypt: a General Survey of Egyptian Culture and Civilisation. London, 1950.


Margaret A. Murray: The Divine King in England: a Study in Anthropology. London, 1954.


Margaret A. Murray: My First 100 Years. London, 1963.


Kathleen L. Sheppard: The Life of Margaret Alice Murray. Lanham, 2013.